Frühlings-Anglerweisheit
Heute habe ich einen Menschen etwas Ähnliches sagen hören, was ich in meiner Kindheit von Oma Karbe und den Brüdern Grimm sagen hörte: „Er hat das Zeitliche gesegnet“, sagte der Mann und meinte den Winter. Ich war mit ihm ins Gespräch gekommen, weil ich vorübergehend seine Fische am Anbeißen und ihn am Fangen störte, als ich das Paddelboot am Ufer der Ilmenau zu Wasser ließ. Oma Karbe hatte auch diese Formel benutzt, wenn jemand im Mietshaus gestorben war: Dieser Mensch hat nun auch das Zeitliche gesegnet... Und auch die Brüder Grimm legten mancher anderen Märchengestalt diese Worte von Oma Karbe in den Mund, wie dieser Angler am Ufer der Ilmenau. Als ich ablegte, entschuldigte ich mich nochmal für die Störung. ,“Macht nichts“, sagte dieser Mensch ebenso langsam wie nachdenklich und schaute weiter auf das unterhalb seiner Füße vorbeischlängelnde Ilmenau-Wasser. Das Wasser bewegte sich ähnlich langsam wie seine folgenden Worte. „Macht gar nichts, mein Lieber, wir haben viel, viel Zeit - solange wir leben..." Ein Philosoph im Kreise Uelzen? Ein Weiser? Ein wirklicher Denker? Denken wir den Gedanken von der vielen Zeit einmal weiter: Wenn wir uns überhaupt die Zeit erlauben, über die Zeit schlechthin oder gar unsere persönliche Zeit nachzusinnen (wer leistet sich schon das Lesen dieser Kolumne bis zu ihrem Ende?) - dann nutzen wir normalerweise als Symbol für die Zeit einen Strom. Kleiner oder größer oder ebenso wie unsere Ilmenau. Der Strom ist die Zeit und in diesem Bild sitzen wir meist am Ufer des Wassers und schauen darauf und kommen zum Schluss: Das ist die Zeit und sie fließt vorüber und ich sitze daneben und gucke zu. bis ich das Zeitliche segne. Würde Frau Karbe sagen. Östlichere Philosophen als meiner am Ufer der Ilmenau, zum Beispiel die Philosophen im ZEN, lächeln freundlich über dieses unser Zeit-Bild und lassen uns gelassen weiter am Ufer unserer Zeit sitzen. Sie selbst sitzen in ihren Bildern nicht am Ufer des Stromes der Zeit: Sie sind vielmehr die Zeit selbst, sie schwimmen im Strom ihrer Zeit. Du bist nicht im Stau, erinnern manche Spruchbänder über Autobahnbrücken, Du bist der Stau. So ist es wohl mit der Zeit. Wir sind unsere Zeit und gucken nicht vom Ufer auf sie. Nur insofern lohnt sich eine Abänderung der Beobachtung unseres Ilmenau-Anglers: Wir haben nicht nur viel, viel Zeit. Wir sind sehr viel Zeit. Was wir mit ihr machen, wie mit ihr umgehen, das ist wieder uns überlassen. Ob wir unsere Zeit und einmal das Zeitliche segnen. Oder sie uns vertreiben oder zerstreuen - jedes Menschen Entscheidung. Zumindest verdanke ich dem Angler heute das Nachdenken über den Segen der Zeit. Petri Heil!
02. April 1996